Projekte partizipativ gestalten …mit Menschen mit Lernschwierigkeiten

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Neulich haben wir das Projekt "Geschichte leicht verstehen" vorgestellt. Dazu habe ich hier geschrieben. Die Resonanz zum Projekt war enorm positiv. Viele Menschen haben uns gesagt: So etwas sollte es öfter geben. Und ihr haben es selber gespürt: Dieser Weg fühlt sich richtig an. Deswegen sollen viele Menschen von unseren Lernwerten profitieren.

Seit 15 Jahren entwickle und gestalte ich mit Menschen partizipative Prozesse und Projekte. Aus einer tiefen inneren Überzeugung heraus habe ich so begonnen. Mir wäre gar nicht eingefallen, es anders zu versuchen. Und jetzt weiß ich: Ich will es gar nicht anders. Ich will gemeinsam mit den Menschen neue Wege entwickeln, die es betrifft, ob in Fachkräfteweiterbildung, Sexualberatung oder Projektplanung.

Menschen mit Lernschwierigkeiten wird regulär nicht zu getraut, dass sie sich selbst mit ihren Ideen und Interessen einbringen können. Deswegen tun sie es oft nicht. Weil sie niemand fragt. Oder weil sie den Mut verlieren. Das ist das kulturelle Modell von Behinderung. Aber dazu an anderer Stelle mehr.

Du willst es anders machen.

Sich auf neue Perspektiven einlassen, auf die du nie selbst gekommen wärst, bereichert jeden Entwicklungsprozess. Das hast du schon verstanden. Außerdem bist du überzeugt, dass alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben sollen und wir die Vielfalt unserer Lebensweisen auch in unseren Handlungsfeldern abbilden wollen. Und trotzdem stellt sich oft die Frage: Wo beginnen?

Projekte unterlaufe oft der Kritik, nicht vom Ende her gedacht zu sein und dadurch ihre Nachhaltigkeit zu verschenken. Das ist ein wichtiger Hinweis, den es ernst zu nehmen gilt. Aber gerade für das Ausprobieren neuer Herangehensweisen sind Projekte durch ihren klar umgrenzten Rahmen oft ein geeignetes Format. Hier kann Partizipation im Kleinen geübt werden.

Damit du dich auf diesem Weg gut geleitet und begleitet fühlst, habe ich ein paar meiner Lieblings-Lernwerten aus dem Projekt "Geschichte leicht verstehen" hier zusammengetragen. Nimm davon, was dir taugt, und lass den Rest fallen. Ihr entwickelt euren eigenen Weg. Aber zum Anfang hilft es oft zu schauen: Wie haben andere das gemacht?

Gemeinsam für mehr Teilhabe und weniger Barrieren!

Viele Leute in einem Raum. Manu schaut lächelnd auf die Personen neben ihr. Viele Leute schauen in eine Richtung. Es sit Bewegung im Raum.
Das Bild ist von Lea Städler

Die richtige Bande bilden

Du willst ein Projekt entwickeln, das nachhaltig ist und an dem deine Zielgruppe von Anfang bis Ende mitwirkt. Das ist eine komplexe Aufgabe. Das schafft niemand allein. Das steckt schon im Wortsinn. Dafür braucht es viele verschiedene Fertigkeiten. Du musst "die richtige Bande bilden". Folgende Fragen können dabei helfen:

Vision entwickeln:
Welche Menschen teilen deine Werte und Vorstellungen?

Ressourcen nutzen:
Jeder Mensch kann irgendetwas richtig gut. Welche Kompetenzen gibt es bereits in unserem Team, die für unser Projekt nützlich sind?

Lücken schließen:
Auf welche Kompetenzen können wir für unser Projekt nicht verzichten? Wen brauchen wir noch in unserer Bande?

Deine Bande sind alle Menschen, die im Projekt mitwirken. Mit und ohne Lernschwierigkeiten. Mit all ihren Fähigkeiten.

Meine Erfahrung zeigt mir: Das Bauchgefühl hat oft recht. Du spürst, wer zu deiner Bande gehört. Das sind oft Menschen, die deine Vision und Werte teilen. Ob es wirklich passt, merkt ihr erst, wenn die ersten Probleme auftauchen. Und die wird es sicher geben.

Die Frage ist also nicht: Welche Menschen brauche ich, um keine Probleme zu haben? Sondern: Welchen Menschen vertraue ich, Probleme gemeinsam anzugehen?

Dieses Vertrauen entsteht nicht von allein. Es entsteht durch dein und euer Zutun. Der erste Schritt, nach der Bandenbildung ist deshalb: Beziehungsarbeit. Probleme lassen sich leichter bewältigen, wenn dabei nicht die Beziehung infrage steht. Dafür braucht es ein gutes Fundament. Das legt ihr gemeinsam. Das erfordert Zeit, die du in der Anbahnung der Zusammenarbeit einplanen musst.

9 Leute sitzen um einen Tisch herum. Die meisten tragen ein lila T-Shirt. Alle schaue konzentroert. Auf dem Tisch in der Mitte liegen verschiedene Gegenstände. Im Hintergrund ist eine DGS-Dolmetscherin. Sie hat ein rotes Band über den Schultrern. Rindsherum sitzen Menschen in kreisen und schauen zu.
Das Bild ist von der Eröffnungsveranstaltung vom Arado-Weg in Leichter Sprache. Lea Städler hat das Bild gemacht.

Der Rahmen macht's

Eine wichtige Frau in meinem Leben hat mich mühsam gelehrt: Der Rahmen macht's. Und seitdem ich es verstanden habe, stimme ich vollkommen zu. Der Rahmen definiert die Spielwiese, in der ich mich frei entfalten kann. Dein Projekt mit seinen Zielen und äußeren Bedingungen ist der Rahmen. Darin soll die Magie entstehen. Wichtig ist also, wie du den Rahmen aufspannst.

Zeit einplanen:
Plane ausreichend Zeit ein, sowohl für den gesamten Prozess, als auch für jeden einzelnen Teilschritt. Partizipation heißt: Bestimmte Schritte immer wieder umzuwerfen. Menschen mehrmals fragen, offen sein für Veränderungen und abwarten, bis die die produktiven Impulse kommen. Das bedeutet auch oft, manche Schritte mehrmals zu gehen und Schleifen zu drehen.

Mit Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Voraussetzungen zusammenzuarbeiten heißt auch, das individuelle Tempo der Beteiligten anzuerkennen. Nicht jedes Treffen im Rahmen eures Projektes wird produktiv sein. Pausen sind wichtig, um die vorangegangenen Schritte zu verarbeiten und Energie für den nächsten Schritt zu sammeln. Bei manchen Treffen wird wenig Produktives stattfinden. Trotzdem sind sie wichtig: Sie dienen zum Einchecken, Updaten und der Beziehungsgestaltung. Wenn Menschen sich wohlfühlen, ist die Lust größer, gemeinsam weiterzuarbeiten.

Die Vorbereitung sowie die Nachbereitung sind fester Bestandteil des Prozesses. Sie müssen in der Zeit- und Ressourcenplanung einen festen Platz bekommen. Mit der Vorbereitung bestimmst du den Rahmen, der den Beteiligten die nötige Orientierung bietet. Ohne die geht es nicht. In der Nachbereitung reflektierst du, was gut lief und was (noch) nicht. Daraus lernst du für den nächsten Schritt und das nächste Projekt. Diese Lernmöglichkeit ist verschenkt, wenn du dir die Zeit dafür nicht nimmst.

Bedürfnisse abfragen:
Für viele Menschen ist es schwer zu sagen, was sie brauchen, um partizipieren können. Sie haben noch nicht gelernt, dafür einzustehen. Wollt ihr gut zusammenarbeiten, müsst ihr das einander fragen. Viele Menschen wurden noch nie nach ihren Bedarfen gefragt. Oder sie haben gelernt, gefällige Antworten zu geben. Weil sie mussten.

Mache Vorschläge und biete ihnen verschiedene Optionen an. Plane ein, dass die Antwort sich häufig verändern kann. And to state the obvious: Geht nicht davon aus, dass ihr die Antworten schon kennt.

Aufgaben klar verteilen:
Macht für alle klar, wer welche Aufgabe im Projekt hat. Dazu gehört auch, an bestimmten Stellen Verantwortung zu bündeln, weil es Abläufe vereinfacht. An anderer Stelle wird es nötig sein, Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen, damit das Projekt weiterhin von allen Beteiligten getragen wird. Das ist ein Balance-Akt und muss im Projekt womöglich immer wieder verändert und aktualisiert werden. Wichtig ist, dass alle zu jedem Zeitpunkt möglichst gleichermaßen informiert sind, wer welche Aufgabe hat.

Transparente Ziele setzen:
Mach die Ziele des Projektes deutlich. Und prüfe, ob alle mit „im Boot sind“. Bestenfalls gelingt es euch, gemeinsame Ziele zu bestimmen. Versucht die Ziele so zu formulieren, dass jede beteiligte Person ein eigenes Interesse darin wieder findet. Dann weiß jede Person, wofür sie gerade mitmacht und ist mehr motiviert dranzubleiben.

Blick durch eine alte Flügeltüpr. Die Türen stehen offen. Im Raum sind verschwommen Personen und Stühle zu erkennen. Eine Person steht, andere sitzen.
Das Bild ist von Lea Städler.

Der Unterschied zwischen Führen und Leiten

Der Unterschied zwischen Führen und Leiten ist manchmal fein, aber wichtig. Führung ist häufig direktiv und bündelt Verantwortung in einer oder wenigen Personen. Das passt nicht zu einem partizipativen Ansatz.

In partizipativen Projekten braucht es vielmehr eine kompetente Leitung. Das kann bedeuten, Verantwortung gezielt zu verteilen,  sodass alle Beteiligten ihre Kompetenzen einbringen können.

Gleichzeitig ist es entscheidend, Komplexität zu reduzieren, um echte Beteiligung zu ermöglichen. Versuche für jeden Schritt einen klaren Fokus zu setzen: Pro Termin ein Thema.

Die zentrale Aufgabe der Leitung ist, „die Fäden zusammenzuhalten“, also für einen klaren Rahmen zu sorgen, Orientierung zu geben und die Aufmerksamkeit gezielt zu lenken. So entsteht eine Atmosphäre, in der sich alle beteiligen und verstanden fühlen können.

Meine persönliche Definition von Leitung ist: Dafür sorgen, dass alle Beteiligten die Informationen und Mittel haben, die sie brauchen, um ihre Aufgabe selbst gut zu umzusetzen.

Eine Person hält ein rotes Fadenknäuel in die Kamera und das Ende des Fadens gespannt-
Das Bild ist von Lea Städler.

Einen Plan machen, den ich jederzeit bereit bin umzuwerfen

In partizipativen Projekten ist es wichtig, eine gute Balance zwischen Offenheit und Strukturiertheit zu finden. Ein klarer Plan gibt Orientierung und Sicherheit – besonders wenn Menschen Selbst- und  Mitbestimmung erst erlernen. Gleichzeitig braucht es das Vertrauen, dass der Prozess nicht vollständig planbar ist.

Oft entstehen die wertvollsten Impulse spontan – mitten im Tun. Vielleicht kennst du das: Die besten Ergebnisse sind häufig nicht von Anfang an geplant. Im Projekt Geschichte leicht verstehen entstanden sie oft dann, wenn wir kurz die Fäden losließen. In diesen Momenten waren wir ganz ergebnisoffen und haben so neuen Impulsen Raum gegeben.

Das klingt vielleicht scary, bringt aber großen Spaß mit neuen kreativen Lösungen. Entscheidend ist, das richtige Maß an Begrenzung zu finden, das Selbstgestaltung ermöglicht anstatt verhindert. Kurz gesagt:

Einen Plan zu haben ist gut – ihn bei Bedarf auch loszulassen, ist manchmal noch besser.

Manu stützt die Arme in die Seite und schaut konzentriert zu einer anderen Person, die etwas erklärt.
Das Bild ist von Lea Städler.

Auf die Lücken schauen: Selbstbestimmung erkennen

Es ging nun schon um den Unterschied zwischen Führen und Leiten sowie die Balance zwischen Offenheit und Fokus. Das sind alles Voraussetzungen dafür, Selbstgestaltung zu ermöglichen. Als Leitung oder Beteiligte*r in einem partizipative bewegst du dich immer fluide zwischen diesen verschiedenen Polen hin und her. Ich nenne dieses Pendeln auch:

Mitbestimmung organisieren.

Jede Person hat die grundlegende Fähigkeit selbst und mitzubestimmen. Manchen Menschen wurde das lange Zeit systematisch abgesprochen. Entsprechend ungewohnt ist es vielleicht, nach der eigenen Meinung gefragt zu werden. Die vorhandene Fähigkeit zum Selbst- und  Mitbestimmen muss also von euch als Team im Projekt „geborgen“ werden.

Menschen mit Lernschwierigkeiten haben oft gelernt, gefällig zu sein, um notwendige Unterstützung zu erhalten. Sich selbst mit den eigenen Ideen einzubringen, kann vor diesem Hintergrund bedrohlich wirken. Deshalb habt ihr in eurem Projektteam einen vertrauensvollen Rahmen geschaffen. Der wird es möglich machen, dass kreative Impulse aufblitzen. Eure Aufgabe ist es, diese feinen Momente wahrzunehmen und aufzugreifen.

Bedenke dabei, dass Antworten vielleicht nicht linear formuliert werden. Ein wertvoller Impuls kommt vielleicht an ganz unerwarteter Stelle. Das macht nix. Er ist trotzdem da und soll erkannt und wertgeschätzt werden. Dann gibt es sicher noch mehr davon.

Eine Person spricht in ein Mikro. Manu schaut und hört ihr aufmerksam zu.
Das Bild ist von Lea Städler.

Das Wichtigste an der Arbeit: Die Zeit dazwischen!

Aus den vorigen Beiträgen ist schon deutlich geworden, wie wichtig Vertrauensaufbau ist, damit partizipative Projekte gelingen. Kein gemeinsames Wirken ohne gute Beziehungen. Deswegen hebe ich zum Abschluss das wichtigste Mittel noch einmal hervor:

Pausen

Die Zeit zwischen den Arbeitsphasen ist oft am wichtigsten. Du kennst das: Auf einem Fachtag mit vielen wichtigen Beiträgen knüpfst du die wertvollsten Kontakte bei einem Kaffee dazwischen. Dabei vereinen Pausen das Beste aus der partizipativen Projektarbeit:

Pausen sind gemeinsame Momente, in denen es nicht um die Projektarbeit geht. In dieser Zeit passiert nicht nur Erholung, sondern entsteht Raum für ein Kennenlernen in neuer Weise. So wird Sympathie, Interesse und Verbindung zueinander möglich. Sorge dafür, dass ihr als Team gemeinsam eine gute Zeit verbringen könnt.

Letztlich willst du auch, dass alle dabeibleiben und im Projekt weiter mitmachen. Das klappt am ehesten, wenn alle Beteiligten positive, von Leichtigkeit getragene Erfahrungen machen. Gib allen einen guten Grund wiederzukommen. 

Besonders eignet sich dazu gemeinsames Essen. Um einen Tisch bei einer Mahlzeit zusammen und sind für einen Moment ganz gleich mit ihren menschlichen Bedürfnissen. Es lohnt sich, gemeinsame Mahlzeiten fest als Teil eures Projektes einzuplanen.

Nebenbei sind Pausen oft kreative Melting Pots: Sie sind klar umgrenzt, aber in ihrem Zweck nicht vorbestimmt. So kann manchmal unerwartet etwas Neues entstehen.

Drei Luete stehen draußen und erheben die Gläser zum protest. Eine Person jubelt und eine Person klatscht und lacht.
Das Bild ist von Lea Städler.

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